MICHAEL WITTWER: „ES IST DER WAHNSINN, WAS GERADE IM MARKT PASSIERT…“

Michael Wittwer, Geschäftsführer für Vertrieb, Marketing und Produktentwicklung beim Geflügelspezialisten HANNA-Feinkost AG: „Es ist der Wahnsinn, was gerade im Markt passiert…“

Sein Plädoyer: „Diese Problemballung ist nur mit einer weiterhin fairen, pragmatischen Zusammenarbeit zwischen den Produzenten und dem Großhandel zu entschärfen“

Seine Prognose: „Diese Situation ist nicht nur temporär. Zu erwarten ist, dass wir es mit einer langfristigen, elementaren Verschiebung im Markt und im Konsumverhalten zu tun haben werden“

2019 war für die HANNA-Feinkost AG aus dem ostwestfälischen Delbrück noch eines der besten Jahre überhaupt. Der Geflügelspezialist – ein etabliertes, solides Familienunternehmen mit einer über 50-jährigen Tradition, das allerdings von externen Geschäftsführern geleitet wird – stieß an seine Kapazitätsgrenzen, die bei etwa 10.000 Tonnen pro Jahr liegen.

Umso härter war der Produktions- und Absatzeinbruch, der schon kurz danach, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, leider folgte – und die letzten beiden Jahre turbulent prägte. Die Auslastung sank auf 50 Prozent, zurzeit liegt sie bei etwa 75 Prozent.

Michael Wittwer ist seit Februar 2021 Geschäftsführer für die Bereiche Vertrieb, Marketing und Produktentwicklung beim mittelständischen Veredelungsbetrieb, der ein breites Sortiment (insgesamt rund 200 Artikel) an TK- und Convenience-Geflügelprodukten im Premium-Segment ausschließlich in Richtung Food-Service, GV und Gastronomie anbietet. Vorher war er bei einem namhaften Käsespezialitäten-Hersteller tätig und hat dort die Food-Service-Abteilung aufgebaut sowie geleitet. Wittwer ist ein ausgewiesener Markt- und Branchenkenner, der über eine mehr als 30-jährige Berufserfahrung verfügt.

Auch angesichts der derzeitigen Extremlage, die quasi alle bisherigen Standards, Verhältnisse und Gewohnheiten in seinem geschäftlichen Umfeld aktuell und wohl auch noch mittel- bis langfristig auf den Kopf stellt, bleibt Wittwer ruhig und setzt erstmal eine positive Nachricht voran: „Wir können weiterhin zu 100 Prozent liefern. Unsere Rohstoffversorgung ist gesichert. Wir verfügen traditionell über enge und lange Beziehungen zu unseren Schlacht- und Zuchtbetrieben in Deutschland, Frankreich und Polen, die eine solide Basis für unsere Liefersicherheit darstellen.“ Diese erfreuliche Zusage scheint aber nur eine der eher wenigen Gewissheiten zu sein, die er angesichts der derzeitigen Rohstoff-, Markt- und Preisturbulenzen geben kann. Sein Markt ist (wie fast alle im Lebensmittelbereich) heftig in Aufruhr geraten, von Unsicherheiten und Fragezeichen gezeichnet. Die Rahmenbedingungen haben sich stark verbogen, Nervosität prägt das Geschehen. Die Zustände, mit denen auch er zu kämpfen hat, beschreibt er zwar immer noch sachlich, aber dann doch mit drastischen Fakten: „Was zurzeit in unserem Markt passiert, ist schlichtweg der Wahnsinn. Quer durch alle Bereiche und entlang der gesamten Produktionskette. Die Preisentwicklungen sind dramatisch. Eine fast 100-prozentige Preissteigerung bei Geflügelfleisch. Panaden wurden um 60 Prozent teurer, Speise- und Frittieröle gar um 130 Prozent. Die Gesamtsituation, man muss es leider sagen, ist regelrecht pervers. Wir haben es mit einer Problemballung zu tun, wie wir sie bisher nicht kannten. Die Geflügelpest, das Auf und Ab durch Corona und jetzt auch noch dieser unsägliche Krieg. Dies alles erwischt uns in voller Breite und lässt keinen Bereich aus, in dem wir es nicht mit Kostensteigerungen zu tun hätten.mDas fängt bei steigenden Futterpreisen an, die sich durch die Ukraine-Krise nahezu verdoppelt haben, und zieht sich von Kostensteigerungen bei Folien, Verpackungen bis hin zu extremen Verteuerungen bei Energiestoffen und in der Logistik. Dazu stockt auch noch in einigen Bereichen die Warenverfügbarkeit. Auf Verpackungen und Etiketten, die wir früher binnen 14 Tagen geliefert bekamen, warten wir jetzt monatelang.“

Die Mengen- und Preiskontrakte mit den Zulieferern, die bisher noch für einen Zeitraum von 5 Monaten galten, seien nun auf 7 Tage verkürzt worden. „Diese Umstände erschweren unser Handeln deutlich und erfordern ein hohes Maß an Flexibilität, Organisation und Kommunikation“, betont Wittwer.

Angesichts dieser verschärften Bedingungen blieb auch der HANNA-Feinkost AG nichts anderes übrig, ihren Kunden nur noch eine Preisgarantie von einem Monat zusichern zu können. Gerade in dieser Extremlage, so Wittwer, sei es besonders wichtig, dass man weiterhin offen, transparent und fair miteinander umgehe. In jede Richtung und vor allem in der Kooperation zwischen Produzent und Großhandel. Als besonders vertrauensvoll und fair beurteilt er diesbezüglich die Zusammenarbeit mit der TIFA und den übrigen Genossenschaftsgruppen, die im Lebensmittelbereich tätig sind. Die derzeitige Extremlage hält Wittwer nicht nur für eine saisonale Angelegenheit. Die Situation würde sich sicherlich auch wieder beruhigen, aber langfristig sei eine elementare Verschiebung im Markt und im Konsumverhalten zu erwarten: „Es könnte der Abschied von günstigen Lebensmitteln und von der Überflussgesellschaft sein. Wie früher eben: Sonntags gibt es den Fleischbraten – und wochentags ernährt man sich anders, also alternativ und billiger. Es ist zu erwarten, dass sich untere und mittlere Einkommensklassen bestimmte Lebensmittel nicht mehr so leisten können, wie sie es in den letzten Jahrzehnten gewohnt waren. Die Preise durchbrechen jetzt sämtliche Schallgrenzen. Wer glaubt, dass diese an sich oder alsbald wieder eine gewohnte, normale Bodenhöhe erreichen könnten, könnte sich täuschen.“

Für die HANNA AG mit ihren rund 250 Mitarbeitenden gelte es, so Wittwer, ihre mittelständischen Fähigkeiten und Chancen weiter zu nutzen sowie auszubauen. Hierzu würden vor allem ihre hohe Flexibilität, ihre Kernkompetenzen sowie ein gesundes Maß an Stabilität, Durchhaltevermögen und Optimismus gehören: „Auch wenn die Zeiten schwierig sind, gilt es, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern aktiv nach vorne zu handeln, die unternehmerischen Spielräume trotzdem zu erweitern und sich zumindest
teilweise auch neu auszurichten.“

Für sein Unternehmen gäbe es diesbezüglich sicherlich noch genug Potenziale und neue Absatzkanäle, bleibt Wittwer trotz der derzeitigen Lage zuversichtlich. Kooperationsfähigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen seien auch weiterhin die Basis für das Geschäft: „…in der Beziehung zu unseren Kunden, zu unseren Lieferanten, aber gerade auch die eigene Belegschaft betreffend. Besonders in diesen hektischen Zeiten, die derart fragil und unberechenbar sind.“